"Laoweeeeiiii!". Der kleine Junge rief es schon von weitem, als er die Yang Jia Xiang betrat, sein Wohngebiet, das durch Mauern von der Hauptstrasse abgetrennt war. Der Junge hockte neben seiner Mutter, die auf einem Stuhl am Weg sass. Er winkte ihnen zu. Er mochte diese kleine Familie, zu der noch ein Vater gehoerte, der sich im wahrsten Sinne des Wortes abstrampelte, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie besassen ein klappriges, dreiraedriges Fahrrad, meist hoffnungslos ueberladen, mit dem sie Brauchbares sammelten, um es an Grosshaendler zu verkaufen. Recycling auf Chinesisch. Seitdem er darum wusste, hatte er Wasserflaschen, Coladosen und Verpackungsmaterial gesammelt, um es ihnen zukommen zu lassen. Beim ersten Mal hatte sich so viel Wertstoffliches angesammelt, dass sie ihn bezahlen wollten. Zwei Yuan, umgerechnet 20 Cent, wollten sie bezahlen. Er lehnte dankend ab und freute sich an ihrer Freude. Seitdem gruessten sie sich, da er sie fast taeglich sah, wenn er zur Arbeit oder spazieren ging. Nachbarn.
weihouke - 6. Okt, 05:42
Gefuehlt fuenfzig Menschen in einem viel zu kleinen Raum. Dicht an dicht. Die Luft: feucht und stickig. Schueler umlagern die Tische ihrer Lehrer. Einige sagen Litaneien auf. Andere erledigen Schreibarbeiten. Es sind alles Japanischlehrer in diesem "Eurasian Language Office", in das sie auch den Deutschlehrer gepfercht haben. Der Geraeuschpegel erreicht den eines startenden Flugzeugs. An konzentrierte Arbeit ist nicht zu denken. So muss es sich in einer Legebatterie anfuehlen. Massenmenschhaltung. Normal in Ningbo. Die chinesische Schule unterscheidet sich schockierend deutlich von der westlichen. Militaerisch anmutende Aufmaersche, Schueler, die als "Gruessaugust" ihren Lehrern schon morgens am Schultor ein mehrstimmiges "Good morning, teacher!" entgegenschleudern und die manchmal unertraeglichen hygienischen Zustaende, die ihn zwingen, die Schultoilette mit angehaltenem Atem aufzusuchen. Der dritte Stundenplan in vier Wochen, dazu die Masse in der KLasse. Bildungs(ver)wesen in einem Land, das sich der Bedeutung einer guten Ausbildung mehr als bewusst ist. Wie stand es ungelenk geschrieben an der Wand der Deutschklasse: "Wer Geld hat, ist ein Drache. Wer keins hat, ist ein Wurm." Willkommen bei den Wuermern...
weihouke - 29. Sep, 11:20
"Und dann fragt die kleine Schnecke, ob's dem Schwoche denn auch schmecke", sang Ulrich Roski einst ueber den ersten Besuch eines Berliners im China-Restaurant. In der Wirklichkeit ist natuerlich alles ganz anders.
"Do you like the dishes?" fragt seine Tischnachbarin hoeflich. Und wie! "Hen haochi", antwortet er begeistert. Sehr lecker. Das chinesische Essen hat so gar nichts mit dem eklen Einheitsbrei zu tun, der in Hamburger China-Restaurants manchmal serviert wird. Vielfaeltig ist es, von Meeresfruechten ueber Fleisch bis zu saisonalem Gemuese, Suppen und Reis. Von kochend bis kuehl. Von suess bis sauer. Auf das Appetitlichste angerichtet. Manche Restaurants betritt man durch die Kueche und sieht so allerlei Getier, das kurz darauf im Magen endet. Motto: Ja da kocht der Suppenhahn, den wir noch eben huppen sahn. Alle paar Minuten bringt der Kellner neue Speisen, die auf einem Drehteller in der Tischmitte platziert werden. So kann jeder Mitesser am grossen Rad drehen und sich seine Lieblingsleckerei in Loeffel-, pardon: in Staebchenreichweite bringen. Natuerlich kann auch ein Konkurrent im Kampf ums Dasein durch taktisch geschicktes Drehen von seiner potentiellen Beute getrennt werden, hehe.
An dieser Art zu speisen muss mehr dran sein, als an den Chinesen selbst. Selten, das man mal einen dicken sieht. Ausserdem weiss jeder Chinese ueber den Naehrwert der Nahrungsmittel bestens Bescheid. Trotzdem sind die unvermeidlichen und unverdaulichen Ketten McDonalds und Kentucky Fried Chicken auch in Ningbo auf dem Vormarsch. Fette Burger und Hormon-Huehner: Ist das ein Handelskrieg durch die kalte Kueche? Uncle Sam schweigt feixend und wir kehren zu Ulrich Roski nach Berlin zurueck: " Kompliment an Ihren Fleischer! Ei wie laechelt da die Geisha..."
weihouke - 28. Sep, 12:07
Sie nennen es "Gelbfieber". Zynische Metapher fuer die Liebe zwischen laowai und Chinesin. Gift und Galle ergiesst sich in geduldige Online-Foren. Abgesondert von denen, deren Ego tiefe Wunden davon getragen hat, im unerbittlichen Kampf der Geschlechter. Besonders die Shanghainesinnen sollen wahre Meisterinnen darin sein, grosse Gefuehle vorzugaukeln und dann eiskalt abzuzocken. Mantis meuchelt Maennchen. Existenzsicherung auf chinesisch. Schreiben zumindest die Expats. Steht "pat" dabei fuer Vaterland oder fuer Patriarch?
Der kuehle Verstand kaempft mit dem heissen Herz. Die letzten Tage hat er einige Zeit verbracht mit einer umwerfenden Frau. Liebreizend. Lange Haare. Sportlich. Kollegin. "Oh Gott nein, fang bloss niemals was am Arbeitsplatz an!", raunt der innere Zensor. "Du weisst doch genau wie das endet!" Es war das Gefuehl einer tiefen Verbindung auf den ersten Blick. Unerklaerlich. Schoen. Nervenaufreibend. "Denk dran, das hast Du schon mal gedacht!", laesst der Zensor nicht locker. Ja, ja. "Sie ist ver-hei-ra-tet. Was Du nicht willst, das man Dir tu, das fueg' auch keinem andern zu!" Weiss ich doch. Bringt schlechtes Karma. Aber heute in dem tausendjahrealten buddhistischen Kloster, der alte Moench hatte gelaechelt und ihn mit fliessendem Englisch verbluefft, Weihrauch erfuellte die Luft, hunderte Glaeubige, die sich demuetig niederwarfen vor den grossen Buddha-Figuren, heute in dem Kloster, als sich ihre Haende beruehrten, nur kurz, aber tiefinniglich, vertraut, als wenn sie sich schon einige Leben lang kennten, als sie verlegen auseinanderprallten, verstohlen laechelnd, scheu, in diesem Moment hatte er den grossen Buddha instaendig gebeten: "Hilf mir, dieses wunderbare Wesen die meine werden zu lassen..."
weihouke - 26. Sep, 11:00
Was fuer ein Kontrastprogramm. Er sitzt am Fenster im 16. Stock des Luxushotels "Dapengshan", eine Autostunde von Ningbo entfernt. Nach einem Wannenbad in wohlduftenden Essenzen, in einen weichen Bademantel gehuellt, behaglich eine Tasse Kaffee schluerfend, mit einem herrlichen Ausblick auf einen gruen schimmernden See, gesaeumt von einer bewaldeten Berglandschaft.
Die Schule hatte alle Stundenplaene geaendert. Einige fielen aus, andere wurden schnurstracks in die fruehen Morgenstunden verlegt. Betriebsausflug in einen Vergnuegungspark stand an. "So eine Art Disneyland" hatte Lei Lei, seine Ansprechpartnerin, gesagt. Und das lag nun zu seinen Fuessen. Draussen schien es zu nieseln. Hier, hoch oben, unterbrach nur das Rauschen der Klimaanlage die himmlische Ruhe. Er verspuerte so gar keine Lust, seine wunderbare Aussicht fuer das Touristenspektakel da unten aufzugeben.
Diesen unverhofften Luxus hatte er sich redlich verdient. Die vergangene Woche war anstrengend gewesen. Schlecht geschlafen, viel Arbeit, dazu der feuchtheisse Mief, der die Kleidung am Koerper kleben liess und so gar keine Lust auf das naechste Einatmen machte. Und erst die schaebige Unterkunft mit den alten Moebeln, dem viel zu kurzen Bett und einer flitzflinken Schabe als Haustier. Oder Mitbewohner? Einmal hatte er sie erwischt, obwohl sie jeden Winkel geschickt zu ihrer Deckung nutzte, waehrend sie vor ihm floh. Da er es nicht uebers Herz brachte, sie umzubringen, warf er sie kurzer Hand aus der Wohnung. "Weiche hinweg von mir, Daemon!" Am naechsten Tag, als er arglos die Tuer oeffnete sauste etwas blitzartig zur Tuer herein und verschwand in einer Spalte des alten Gemaeuers. Die Schabe war wieder da. Wahrscheinlich hat sie einen Mietvertrag.
Und nun, in kulturschockierendem Kontrast dazu, ein riesiger Raum. Gediegenes Ambiente, feinste Keramik. Diverse Toilettenartikel laden, fein saeuberlich aufgereiht, zum Benutzen ein. Obst und Snacks auf dem Wohnzimmertisch, ein Wasserkocher fuer Tee oder Kaffee, Gebaeck. Sogar ein Buegelbrett nebst Buegeleisen findet sich in dieser Traumunterkunft. Fast 1000 Yuan pro Uebernachtung. Davon muessen einige Menschen einen Monat leben. Aber was solls: "Man goennt sich ja sonst nichts!" Die Schule bezahlt und drueckt so ihre Wertschaetzung fuer ihre Lehrer aus. Dinner ist um sechs. Wo ist bloss der Smoking...
weihouke - 19. Sep, 09:52
Ist es Taufe, Wiedergeburt oder einfach nur hoehere Weihe? Nun ist er staatlich gepruefter auslaendischer Experte in der Volksrepublik China. Alle auslaendischen Lehrer wurden in einen klimatisierten Kleinbus verfrachtet und zur staatlichen Verwaltung chauffiert. Dort in den hehren Hallen der Buerokratie wurden Papiere bearbeitet, Fotos gemacht, Zertifikate ausgestellt. Anekdote nebenbei: Jiang Wei, der Kontaktmann der Schule, verraet schmunzelnd, dass dieses Dokument auch Privilegien mit sich braechte. Man duerfe nun bis zu 500.000 Dollar oder Euro als Fremdwaehrung besitzen. (Sollte er sein Gehalt noch einmal nachverhandeln?) Und: Beim Vorzeigen dieses Dokumentes muesse das zustaendige Ministerium dem Inhaber eine Mahlzeit zukommen lassen. Na das ist doch was. Sting kommt ihm in den Sinn. "I'm a legal alien. I'm a german teacher in Ningbo..."
weihouke - 15. Sep, 04:37
Es ist Sonntag. Ein freier Tag, der genossen sein will. Der Bauch ist angenehm gefuellt vom leckeren Essen aus der Kantine um die Ecke. Warum nicht einen Spaziergang machen. Am Flussufer lang bis zur naechsten Bruecke. Dann rechts abgebogen. Da war doch so eine Gruenflaeche, die er aus dem fahrenden Taxi gesehen hatte. Richtig, da ist sie. Und rein ins Vergnuegen. Schon nach kurzer Zeit fuehlt er sich an den Hamburger Stadtpark erinnert. Familien spielen mit ihren Kindern. Papa bringt seiner Tochter das Skateboardfahren bei. Noch ist der Kleinen das Ganze nicht geheuer. Heulend steht sie wackelig auf dem fahrenden Vehikel. Liebespaare knutschen auf dem Rasen. Und mittendrin der neugierig beaeugte Flaneur. Doch ploetzlich ist alles anders. Eine typisch chinesische Landschaft tut sich auf. Huegeliges Gelaende mit tropischen Palmen, Teichen mit Wasserpflanzen und eine Vielzahl kleiner tempelartiger Gebaeude mit Pagodendaechern, weit verstreut ueber das Areal. Aus jedem der Gebaeude dringt traditionelle chinesische Musik. Live. Beim Naeherkommen sieht er die alte Dame, die inbruenstig chinesische Weisen in ihr Mikrofon zwitschert, begleitet von einer gemischten Musikerschaar. Zwei Erhu-Spieler entlocken ihrem zweisaitigen, minicelloartigen Instrument melancholische Melodien, die Boegen gleiten langsam auf und ab. Dazu die Bambusfloete, deren Klang niemand vergisst, der je einen chinesischen Film sah. Voller Wehmut ruehrt die Musik an das Herz der Zuhoerer, die sich in grosser Zahl um das Tempelchen geschart haben, um der Darbietung zu lauschen. Sonntakte auf chinesisch. In jedem Gebaeude eine neue Truppe, die um die Gunst der Zuhoerer buhlt. Man stelle sich mal vor: In jeder Ecke des Hamburger Stadtparks ein zuenftiger Shantychor, begleitet vom Schifferklavier. Ungefaehr so wahrscheinlich wie ein Hamburger Veermaster.
weihouke - 13. Sep, 08:30
"Ladies and gentlemen, please don' t use the english or chinese {aaahhhrrrr} but the german {errrr}" schaerft er den eifrig kehlkopfrollenden Schuelern ein. Deutsche Phonetik hat es in sich. Besonders, wenn man zur Erklaerung die englische Sprache und ihre "sounds" verwenden muss. Schon mal von einem "Dabbeljuh woerd" gehoert? Gemeint ist ein fragendes W-Wort. Und manchmal schlaegt die Zunge des "Tietschers" Kapriolen, wenn es heisst: This word is a verb. Das groesste Problem der Lernenden ist allerdings ein korrektes {ch}. Da beisst man schon mal in ein Gotteshaus, weil es der Frucht so aehnlich ist: Gemeint sind {Kirche} und {Kirsche}. {Ich} zischt der Lehrer den Schuelern entgegen. {Isch} schallt es vielstimmig zurueck. Daran werden alle Beteiligten noch knabbern muessen. Zur Belohnung gibt es ein gepflegtes {Rrrrrrumpelstilzchen}. Er glaubt, dass Maerschen, pardon: Maerchen der Ge-brue-der Grrrrimm ein gutes Mittel sind, um sich in die Klaenge und die Melodie der deutschen Sprache hineinzuhoeren. Auch wenn sie noch so gut wie gar nichts von dem verstehen, was da voller Inbrunst gesprochen wird. Ach wie gut, dass (noch) niemand weiss, wie biestig und gemein die Zicke deutsche Sprache sein kann...
weihouke - 12. Sep, 00:55