Draussen war es unruhig. Getuschel und Gekreische. Die Aufregung. Einige drueckten ihre Nasen an die Scheiben, um einen Blick auf ihre Klassenkameraden zu erhaschen, die gerade dran waren. Kou Yu. Muendliche Zwischenpruefung im Fach Deutsch. Mit viel Geduld und zwei zugedrueckten Augen (und Ohren) lotste er die Pennaeler durch die Pruefung. Wenn es wirklich nicht anders ging, liess er einen durchfallen, der sein Schicksal mit entsetzt aufgerissenen Augen und einem erstickten Schrei quittierte. Zum Glueck bestanden die meisten - wenn auch knapp. Er hatte eine schwere Pruefung vorbereitet, um zu sehen, wo die Klasse stand. Grammatikalisch hatten sie einiges gelernt. Aber ihre Aussprache war grauenvoll. Man hatte sie wie kleine Roboter laut lesen lassen, ohne sie zu korrigieren. So perpetuierten sie ihre Fehler. Typisch fuer das chinesische Schulsystem. Viel Litanei und Auswendiglernen. Ohne Nachdenken oder gar Eigeninitiative. Kreativitaet steht nicht auf dem Lehrplan.
weihouke - 13. Nov, 11:12
Nach der Kaelte kam die feuchte Waerme. Dann die Sintflut. Tagelang ununterbrochener Regen. Weder kalt noch warm. Nur unangenehm. "You will hate it" hatte Jiang Wei schon vor Wochen gefeixt. Er wird wohl Recht behalten. Zwei Mal am Tag klitschnass. Die Kleidung laesst sich kaum trocken kriegen. Auch der Plastikheizluefter, Modell "kleine Ente", billig erstanden im Einkaufsparadies, kommt dagegen nicht an. Pass, Geld, Buecher, Schulunterlagen - von feucht ueber durchweicht bis total unbrauchbar. Auch Plastiktaschen schuetzen nicht vor den Fluten. Das kann ja heiter werden, wenn die Temperaturen auf den Wert sinken, wo die Laune gerade angekommen ist: auf den Nullpunkt.
weihouke - 10. Nov, 13:11
Huo Long Guo (Drachenfrucht), Granatapfel und unbekannte Gewaechse, die offenbar direkt aus dem Garten Eden importiert wurden und in Form und Farbe an die Stilleben alter Meister erinnern. Der Obstkorb spiegelt die Lebensqualitaet wider, die fuer China typisch ist. Ein reiches Angebot an exotischen Fruechten traegt neben der abwechslungsreichen Kueche zu einer gesunden Ernaehrung bei. Der Besuch auf dem Markt wird zum Abenteuer, weil er viele der angebotenen Waren noch nie zuvor gesehen, geschweige denn gegessen hat. Das Einzige, was er schmerzlich vermisst, ist guter Kaffee, knuspriges Brot und Kaese. Aber das hat auch sein Gutes. Der Umfang seines Leibes verringert sich langsam aber sicher...
weihouke - 8. Nov, 01:21
Anfang November. Von einem Tag auf den anderen ist es schneidend kalt. "Lengbingbing" sagen die Chinesen. Ein stuermischer Wind hatte die Wetterveraenderung eingeleitet. Eben noch sommerlich warm, waren jetzt Schal und Pullover angezeigt. In der Schule ist es zugig. Voll vermummt hockt er im Buero, seine langen Beine muehsam unter den viel zu kleinen Schreibtisch gefaltet. Am Morgen war er von seinem Appartment aus zu Fuss nach Gulou aufgebrochen. Dem Einkaufsviertel, das einem anderen China zu entstammen scheint. Einer Zeit, lang bevor die ganze Stadt mit Wolkenratzern zugepflastert wurde. Es ist zehn Uhr morgens, wochentags, wenig los. Verschlungene Gassen, kleine Laeden reihen sich aneinander. Dahinter Werkstaetten. Viel Kunsthandwerk. Er stoebert in dem kleinen Laden fuer Kuenstlerbedarf und ersteht schoenes Kalligraphiepapier fuer umgerechnet 85 Cent. Ein Bild fuer die neue Wohnung ist auch noch drin. Wohnen ist teuer. Leben ist billig in Ningbo. Noch schnell eine leckere Mahlzeit bevor ihn das Schulgelaende, kichernde Backfische und der allgegenwaertige Laerm voll in Beschlag nehmen. "Konnichi wa, sensei" heisst es am Schultor. Diesmal haben also die Japanisch-Schueler Begruessungsdienst...
weihouke - 3. Nov, 11:50
Kaum hatte er seine dringende Bitte nach einer neuen Unterkunft geaeussert, war sie schon erfuellt. Sie hatte ihn angerufen und gesagt: "Ich fahre Dich herum. Schau Dir Appartments an." Und ehe er sich versah, war er auf Besichtigungstour - mit Maklerin im Schlepptau. Zwei Stunden spaeter wurde der Mietvertrag geschlossen. Fuer eine neue, ruhigere und bessere Unterkunft - rechtzeitig vor Einbruch des Winters. Er war gluecklich. Sprachlos. Wollte ihr danken. Wusste nicht wie. "Jeder Deiner Tage in Ningbo soll ein schoener Tag sein". In holprigem Englisch sagte sie diesen Satz, als waere er nichts Besonderes. Ihm war ganz schwindlig. So - viel - Glueck! Er fuehlte sich wie einer, der nach langer Duerre im Platzregen ersaeuft. Die Waffen gestreckt. Hilflos. Dabei hasst er es, machtlos zu sein. Sich einfach nur zu ergeben, faellt ihm schwer. Darf er einfach nur "Danke" sagen, annehmen, wenn sie ihn mit Wohltaten ueberschuettet? Wenn er ihr von seinen Sorgen berichtet in diesem fremden Land, von den Dingen die schief laufen. Kurze Zeit spaeter setzt sie Himmel und Hoelle in Bewegung, um Loesungen moeglich zu machen. Was kann er fuer sie tun? Der Wunsch, etwas wieder gut zu machen, waechst ins Unermessliche. Fuer diese Frau, die so ungewoehnlich ist, wie es ihr Name bedeutet. Was findet sie nur an ihm, dem alternden, grossen Jungen mit ergrauten Schlaefen und dem viel zu ueppigen Bauch? Da ist diese Verbindung, tief und unerklaerlich, die ihm das Gefuehl gibt, in ihrer Naehe ein besserer Mensch zu sein. Die sein Leben heller macht. Als wuerde ploetzlich die Sonne scheinen, mitten in der Nacht. Die traeumen laesst, vom Schoenen und vom Guten. Die nicht von dieser Welt ist, obwohl sie doch mitten im Alltag stattfindet. Wie soll man so etwas "wieder gut machen"? Wo es doch alles andere als schlecht ist. "Seelenkrampf der Gluecksversehrten" hiess das einst bei der "Ersten Allgemeinen Verunsicherung"...
weihouke - 26. Okt, 04:25
My home is my castle sagen die Angelsachsen. Ein Koenigreich fuer ein neues Zuhause heisst es nun in Ningbo. Allmaehlich liegen die Nerven blank. Die Unterkunft, welche die Schule zur Verfuegung stellt, liegt guenstig. Zehn Gehminuten vom Arbeitsplatz entfernt. Das ist aber auch der einzige Vorteil. Nachdem er schon das zweite Mal in seinen eigenen Exkrementen gestanden (Toilette und anschliessend Galle uebergelaufen), jede Nacht von schrillen Alarmanlagen geweckt, die schaurig durch das Wohngebiet schallen und jeden Tag von nervenzerreissendem Baulaerm beglueckt wird, da in unmittelbarer Naehe diverse Hochhaeuser gebaut werden und Bauhoefe liegen, auf denen in unschoener Regelmaessigkeit ab morgens um 5 Uhr gearbeitet wird, egal ob Werktag oder Wochenende, nachdem nun die Liste der Unzumutbarkeiten ungesund angeschwollen ist, muss etwas geschehen. Sofort. Eine neue, bezahlbare Bleibe muss her. Was ist ein guter Schlaf wert? Sophia vom "Reindeer Expat Service", die fuer ihn auf die Suche gehen soll, merkt vorsichtig an, dass ein zahlender Mitbewohner eine teuerere Wohnung moeglich machen und die Chancen erhoehen wuerde. Im zarten Alter von fast 50 die erste WG? Soll er sich das antun? Die typischen Probleme: "Wer ist dran, Klo und Kueche zu putzen? Wer hat den Kuehlschrank leergefressen? Wer hat vergessen, die Stromrechnung zu bezahlen?" Nur das nicht. Seine Flexibilitaet hat Grenzen. so wie seine Duldungsfaehigkeit. Xin de jia zai nar? Neues Zuhause, wo bist du?
weihouke - 19. Okt, 05:02
"Ja, hallo?" Er hatte sein Handy in der Hosentasche klingeln hoeren. "Wei ni hao" erklang es am anderen Ende der Leitung, die typische telefonische Begruessung in China, gefolgt von einem Sermon, den er auf seinem "Survival Level" einiger Worte und Saetze nicht verstehen konnte. Doch ploetzlich ragte wie ein Fels aus der Brandung der Halbsatz "Yifu hao le" hervor und es daemmerte. Seine Waescherei rief an, um mitzuteilen, dass seine gereinigte Kleidung zum Abholen bereit sei. Gott sei Dank, er war schon zwei Mal umsonst dagewesen. "Mei you" hatte man ihm gesagt. Eine vielfaeltig verwendbare Phrase, die von "ham' wir nicht" bis "noch nicht fertig" alles bedeuten konnte. Etwas mehr Probleme macht da der Anruf, den er auf seinem Festnetz-Anschluss erhielt. Aus einer Vielzahl verwirrender Saetze verstand er nur "dianhua" und "fei". Es musste sich also um die Telefonrechnung handeln. Nun war rasches Handeln geboten. Sein Vater hatte in wenigen Tagen Geburtstag. Er wollte ihm unbedingt gratulieren. Wegen der sechsstuendigen Zeitverschiebung muesste er abends anrufen. Doch dafuer braucht es ein funktionierendes Telefon. Nur wie und wo zahlt man in Ningbo seine Telefonrechnung? "Hallo? Hallo? Haaaalllloooohhh..."
weihouke - 12. Okt, 12:24
Im Auto durch Ningbo fahrend werden die Gegensaetze deutlich. Da ist die prosperierende Hafenstadt, ein aufstrebender Stadtstaat. Baustellen, so weit das Auge reicht. Zig Wolkenkratzer im Rohbau. "There are so many people in China", antwortet seine Begleiterin fast entschuldigend, als er seine Ueberwaeltigung ausdrueckt. Weiter geht es ueber breite Strassen, manche holperig und voller Schlagloecher, aber an allen wird gearbeitet. Fabriken und Ladenzeilen loesen sich ab, kleine Werkstaetten und alte Wohnhaeuser. Es wird laendlicher. "Countryside". Nur 20 Kilometer ausserhalb der Grossstadt faengt eine gebirgige Landschaft an. Eingebettet darin: Uralte buddhistische Klosteranlagen. Wie Tiantong Si. Kaum zu sehen von der Strasse, schmiegt sich der altehrwuerdige Gebaeudekomplex eng ans Gebirge. Ein Daecherlabyrinth auf verschiedenen Hoehenniveaus. Umgeben von lichten Bambuswaeldern. Wie in "Tiger and Dragon". Treppauf, treppab. Grosse Hallen mit gigantischen Buddhafiguren. Betende Glaeubige, die Geschenke auf die Altaere legen, auf dass ihre Bitten erfuellt werden. Aber auch himmlische Ruhe. Und klare Luft. Etwas aehnlich Erholsames laesst sich auch mitten in Ningbo finden: Tian Yi Ge. Gelegen nahe des Yue Hu, des Mondsees. Eine sehr alte Bibliothek, geschuetzt von hohen Mauern, hinter denen sich gruene Gaerten und Laubengaenge verbergen, gesaeumt von roten Laternen. Ein Ort der Stille und Kontemplation inmitten einer Mega-City, in der nicht gekleckert wird, sondern geklotzt. Und das nicht nur architektonisch.
weihouke - 8. Okt, 04:46